“Stereo Sue”
Zeitungsartikel Schweiz am Sonntag
Zeitungsartikel Bündner Anzeiger
FAQ / Häufige Fragen
Wobei hilft Funktionaloptometrie & Visualtraining?
Visualtraining, was ist das?
Warum „Sehpflege“?
Warum eine Entlastungsbrille?
Was ist Optometrie?
Warum entstehen visuelle Probleme?
Visualtraining, auch für Erwachsene?
Welche Sehfunktionen werden geprüft?
“Stereo Sue”
Bei diesem Text handelt es sich um eine nicht offizielle Übersetzung einer Radioreportage des sehr bekannten US-amerikanischen Radiosenders NPR (=National Public Radio), vom 26.6.2006. Die Übersetzung wurde von Tobias Herrmann unter Mithilfe eines Muttersprachlers durchgeführt.
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BETEILIGTE PERSONEN
DR. SUSAN R. BARRY: Susan Barry ist Professorin für Neurowissenschaften an dem Mount Holyoke College (USA). Bei Susan Barry wurde in der frühen Kindheit ein offen sichtbares Schielen festgestellt. Daraufhin fanden drei Augenmuskel-operationen (mit 2, 3, und 7 Jahren) statt. Die Sehschärfe blieb in beiden Augen erhalten, jedoch konnte Susan Barry seit dem Auftreten des Schielens keine räumliche Tiefe durch beidäugiges Sehen wahrnehmen. Susan Barry war blind für dreidimensionales Stereosehen.
DR. OLIVER SACKS: Oliver Sacks ist ein US-amerikanischer Neurologe und Schriftsteller und bekannt durch seine populärwissenschaftlichen Bücher, in denen er komplexe Krankheitsbilder anhand von Fallbeispielen allgemeinverständlich beschreibt. Oliver Sacks Werke wurden bisher in 21 Sprachen übersetzt. 2002 wurde er mit dem Wingate Literary Prize ausgezeichnet.
DR. DAVID HUNTER HUBEL: David Hubel ist ein kanadisch/US-amerikanischer Neurobiologe. Hubel ist Professor für Neurobiologie an der Harvard Medical School in Cambridge (Boston), Massachusetts. 1981 erhielt er zusammen mit Torsten N. Wiesel den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin “für ihre Entdeckungen über Informationsverarbeitung im Sehwahrnehmungssystem”.
DR. THERESA RUGGERIO: Theresa Ruggerio ist Funktionaloptometristin. Das bedeutet, sie ist eine Optometristin, die sich auf die Beseitigung von entwicklungsbedingten funktionellen Sehstörungen spezialisiert hat.
ROBERT KRULWICH: Radioreporter.
BEGINN DER RADIOSENDUNG
ANSAGER: Dies ist die Morgenausgabe von „NPR News“. Am Mikrofon ist Steve Inskeep, guten Morgen. Im NPR Wissenschaftskurs erzählt Ihnen jetzt der Korrespondent Robert Krulwich die Geschichte eines „kleinen Mädchens“ und einem „kleinen Wunder“.
ROBERT KRULWICH: Dr. Oliver Sacks, ein berühmter Autor und Neurowissenschaftler, war vor ein paar Jahren auf einer Party. Dort wurde er der Neurowissenschaftlerin Susan Barry vorgestellt. Die beiden unterhielten sich miteinander. Während der Unterhaltung drehte sich Susan Barry zu Oliver Sacks.
OLIVER SACKS: Sie sagte zu mir: „Sie haben bestimmt bemerkt, dass ich etwas schiele.“ Ich sagte (etwas verlegen): „Nein, Nein, Nein, … oh doch ich habe es bemerkt.“
ROBERT KRULWICH: Ihr Schielen sah etwas „lustig“ aus.
OLIVER SACKS: Sie sagte, dass sie schielend geboren sei.
ROBERT KRULWICH: Susan Barry sagte Oliver Sacks, dass sie Ihr ganzes Leben nicht in der Lage gewesen sei mit beiden Augen gleichzeitig zu sehen.
SUSAN BARRY: „Ich habe kein Stereosehen (3D Sehen).“
ROBERT KRULWICH: „Aber abgesehen davon bin ich ziemlich normal“, sagte sie. „Ich sehe alles was andere Leute auch sehen“. Und dann lehnte sich Dr. Sacks zu ihr.
SUSAN BARRY: Er schaute mich sehr ernst an und sagte: „Können Sie es sich vorstellen, wie es ist die Welt mit zwei Augen zu sehen?“ Und ich sagte: „Natürlich kann ich mir das vorstellen! Ich bin eine Universitätsprofessorin, ich lehre dieses Fachgebiet, und deshalb weiss ich exakt, was mir entgeht.“
ROBERT KRULWICH: „Haben Sie noch etwas gesagt?“
SUSAN BARRY: „Nein.“
OLIVER SACKS: „Nein, ich habe es dabei belassen. Dann bekam ich vor drei Monaten einen Brief von ihr, einen unglaublichen Brief.“ In diesem schrieb sie:
SUSAN BARRY: „Sehr geehrter Dr. Sacks, Sie stellten mir diese Frage und ich gab Ihnen diese Antwort. Ich irrte mich gewaltig. Und dann beschrieb ich detailliert, auf neun Seiten, mit einfachem Zeilenabstand, welche Veränderungen mir widerfahren sind.“
ROBERT KRULWICH: „Susan Barry hatte bis zu ihrem zwanzigsten Lebensjahr keine Ahnung, dass ihr Sehen anders funktionierte, als das von anderen Kindern. Dies wurde ihr erst klar, als sie in der Universität eine Vorlesung besuchte.“
SUSAN BARRY: „Ich hatte eine Vorlesung in Neurophysiologie. Dort erwähnte der Professor die Experimente von Hubel und Wiesel, mit schielenden Kätzchen.“
ROBERT KRULWICH: „Hubel und Wiesel erhielten 1981 den Nobelpreis für eine Anzahl von berühmten Experimenten. Eines von ihnen war: Sie machten sehr junge Babykätzchen schielend, und weil sie in ihrer kritischen Phase ihrer Gehirnentwicklung schielend waren, waren die Kätzchen nicht in der Lage mit ihren Augen zu fokussieren.“ Deshalb sagt Dr. Sacks:
OLIVER SACKS: „Wenn die Augen nicht korrekt ausgerichtet sind, dann können sich bestimmte Gehirnmechanismen nicht entwickeln, spezielle Zellen für die Beidäugigkeit, welche für das dreidimensionale Sehen benötigt werden.“
ROBERT KRULWICH: „Die Kätzchen von Hubel und Wiesel lernten nicht dreidimensional zu sehen. Das gleiche passierte auch mit schielenden Affen. Daraus wurde geschlossen, dass wenn ein Baby das beidäugige Sehen nicht erlernt, dann schliesst sich im Gehirn „ein Fenster“ und man kann es nie mehr öffnen. Und Susan Barrys Professor ging sogar noch weiter.“
SUSAN BARRY: „Er sagte, dass diese Veränderung unveränderlich sei und dass dies bei den Menschen genauso sei. Ich war sehr niedergeschlagen. Ich war eine schielende Person. War es möglich, dass ich das gleiche Schicksal teilte?“
ROBERT KRULWICH: „Es stellte sich heraus, dass Susan Barry im zweiten Lebensjahr operiert wurde, das bedeutet, dass sie während ihrer kritischen Phase geschielt hatte. Und als sie sich selbst testete, stellte sie fest, dass sie nur ein Auge zum Sehen verwendete.“
SUSAN BARRY: „Es war wie bei den Kätzchen von Hubel und Wiesel.“
ROBERT KRULWICH: „Was bedeutet das genau? Wenn Sie (an Susan Barry gerichtet) auf einen Bleistift schauen, den ich vor Ihre Augen halte.“ SUSAN BARRY: „Richtig.“
ROBERT KRULWICH: „Hier ist ein Bleistift zwischen mir und Ihnen.“
SUSAN BARRY: „Richtig.“
ROBERT KRULWICH: „Als eine Person, die nur ein Auge zum Sehen verwendet, was sehen Sie?“
SUSAN BARRY: „Ich sehe keinen Raum, keinen greifbaren Raum.“
ROBERT KRULWICH: „Bedeutet das, dass Sie den Radiergummi getrennt vom Bleistift sehen oder sehen Sie eine Bleistift-Radiergummi-Einheit?“
SUSAN BARRY: „Nein, ich sehe den Bleistift zusammen mit dem Radiergummi.“
ROBERT KRULWICH: „Mmh. Dennoch ist sie (Susan Barry) in der Lage Auto zu fahren und durchschnittlich gut Tennis zu spielen.“
OLIVER SACKS: „In ihrer Einäugigkeit war sie so eine Art Virtuose.“
ROBERT KRULWICH: „Doch nach vielen Jahren, nahe ihrem 50. Geburtstag, als sie auf entfernte Objekte schaute, begannen diese was?“
SUSAN BARRY: „Hin und her zu springen.“
ROBERT KRULWICH: „Hin und her springen?“
SUSAN BARRY: „Hin und her zu springen!“
ROBERT KRULWICH: „Beim Tennisspielen, zum Beispiel, schien ihr Gegenspieler sich wechselseitig etwas nach rechts und links zu verschieben.“
SUSAN BARRY: „Jedes Auge sieht die Welt aus einem etwas anderen Winkel. Das Springen entstand dadurch, dass ich ständig mal das eine, dann das andere Auge zum Sehen verwendete.“
ROBERT KRULWICH: „Also ging Susan Barry zu einem Sehspezialisten.“
DR. THERESA RUGGIERO: „Mein Name ist Theresa Ruggiero und ich bin eine Funktionaloptometristin.“
ROBERT KRULWICH: „Dr. Ruggerio sagte, dass sie eine Möglichkeit hätte, ihr Gehirn so zu trainieren, dass ihre Augen in der Lage seien zusammenzuarbeiten. Sie gab Susan eine neue Brille und eine 1,5 Meter lange Schnur, mit daran befestigten Kugeln.
SUSAN BARRY: „Was Sie (an Robert Krulwich gerichtet) meinen ist die sogenannte „Brock-Schnur.“
ROBERT KRULWICH: „Ja, und sie (Theresa Ruggerio) sagte Susan, dass sie das eine Ende der Schnur an einer Wand befestigen sollte und dass sie das andere Ende direkt an ihre Nase halten sollte. Auf der gespannten Schnur sehe sie dann eine Reihe von Kugeln. Sie (Theresa Ruggerio) sagte ihr (Susan Barry), dass sie jede Kugel einzeln anschauen solle.“
SUSAN BARRY: „So sollte ich lernen, beide Augen zur gleichen Zeit, auf den gleichen Ort auszurichten.“
ROBERT KRULWICH: „Nach drei Wochen stieg sie (Susan Barry) an einem Morgen in ihr Auto ein.“
SUSAN BARRY: „Ich sass auf dem Fahrersitz und schaute auf das Lenkrad, welches vor dem Armaturenbrett schwebte.“
ROBERT KRULWICH: „Was meinen Sie damit?“
SUSAN BARRY: „Es hatte seinen eigenen Platz im dreidimensionalen Raum. Niemals zuvor hatte ich eine solche Wahrnehmung. Weil ich wusste, dass dies nicht möglich sein kann, konnte ich es nicht glauben. Ich konnte kein 3D-Sehen entwickeln! Deshalb fuhr ich nach Hause und versuchte es zu vergessen.“
ROBERT KRULWICH: „Und dann?“
SUSAN BARRY: „Am nächsten Tag stand ich auf und machte die Sehübungen. Ich ging zum Auto und als ich den Rückspiegel einstellen wollte, schwebte dieser vor der Windschutzscheibe.“
ROBERT KRULWICH: „Irgendwie tauchte der Rückspiegel in seinem eigenen Raum auf!“
OLIVER SACKS: „Zum ersten Mal in ihrem Leben, nach 50 Jahren Blindheit für dreidimensionalen Raum, hatte sie (Susan Barry) einen Sinn für räumliche Tiefe entwickelt.“
ROBERT KRULWICH: „Aber in jedem Fachbuch steht, dass sich Gehirne in diesem Alter nicht so dramatisch verändern können! Deshalb wollte Dr. Sacks sie (Susan Berry), nachdem er von ihrer Geschichte erfahren hatte, besuchen.“
SUSAN BARRY: „Ich war aufgeregt. Ich konnte es nicht glauben, dass Oliver Sacks in mein Haus kommt!“
ROBERT KRULWICH: „Er (Oliver Sacks) kam mit zwei Sehspezialisten. Sie brachten Sehtests mit, welche versteckte Bilder, wie einen Fisch enthalten, welche man nur dann sehen kann, wenn man über ein dreidimensionales Sehen verfügt.“
SUSAN BARRY: „Er gab mir dieses Buch und diese Brille und fragte mich, was ich sehe und ich geriet ganz aus dem Häuschen. Wow, der Fisch!!! Er kommt mir entgegen!!! Und er (Oliver Sacks) sah richtig glücklich aus.“
OLIVER SACKS: „Jetzt war ich überzeugt.“
ROBERT KRULWICH: „Jetzt blieb nur noch die Frage offen: Wie konnte das passieren? Die Spezialisten glauben, dass Susan als Baby vielleicht ein paar Zellen für beidäugiges Sehen entwickeln konnte. Das bedeutet, dass sie über das nötige Rüstzeug verfügte.“
SUSAN BARRY: „Das Rüstzeug war da, ich musste „nur“ noch meine beiden Augen dazu bringen zusammenzuarbeiten.“
ROBERT KRULWICH: „Dr. Ruggerios Gläser und Kugeln synchronisierten ihre Augen. Sie verstärkten das Signal zu den Zellen in ihrem Gehirn und brachten sie wieder dazu zusammenzuarbeiten. Oder nicht? Ich meine, niemand weiss, was wirklich passiert ist! Was ist jetzt klar? Und das ist neu: Ausgewachsene Gehirne wie die von Susan können sich verändern.“ „Ich kann nichts gegen Ihr Schielen tun, Sie hätten zu mir kommen sollen als Sie ein Baby waren.“ „Zu dieser Aussage von Sehspezialisten hat der Nobelpreisträger David Hubel, nachdem er Susan getroffen hatte, folgende Meinung.“
DAVID HUBEL: „Ich denke Sues Fall macht sehr deutlich, dass wenn ein Augenarzt oder ein Optometrist so etwas sagt, sollte man eine offener eingestellte Person finden. Und das hat sie offensichtlich getan. Und das war eine verdammt gute Sache was sie getan hat!“
ROBERT KRULWICH: „Sagen Sie das als Nobelpreisträger?“
DAVID HUBEL: „Ich glaube, so etwas (den Nobelpreis) kann man nicht einfach ablegen.“
ROBERT KRULWICH: „Susan Barry schritt in eine Welt, die anders war, als sie es sich jemals hätte vorstellen können. Dies war letztendlich nur möglich, weil sie es so fest versucht hatte, weil sie so motiviert geübt hatte und weil sie so zufrieden mit der Wahl ihres Sehspezialisten war. Der Schritt in die neue Welt passierte Wort wörtlich, als sie eines Tages zur Mittagszeit aus ihrem Universitätsgebäude kam und es schneite.“
SUSAN BARRY: „Es war einer dieser Schneefälle im Spätwinter, bei dem dicke, grosse Schneeflocken langsam vom Himmel fallen. Ich konnte jede Schneeflocke in ihrem eigenen dreidimensionalen Raum sehen. Und es war Raum zwischen den Schneeflocken. Es war ein wunderschöner, dreidimensionaler Tanz. Und ich hatte das Gefühl, dass ich mitten im Schneefall war. Wenn ich vor meiner Therapie einen Schneefall sah, fielen alle Schneeflocken kurz vor mir in einer Ebene. Ich war kein Teil des Schneefalls, ich schaute nur in den Schneefall hinein. Und nun hatte ich das Gefühl, dass ich mitten im Schneefall war. All diese wunderschönen Schneeflocken waren überall um mich herum. Und ich war überglücklich. Ich hatte noch nie so etwas gesehen. Das Mittagessen hatte ich komplett vergessen. Ich stand einfach nur in der Mitte des Campus und schaute dem Schneefall zu.“
ROBERT KRULWICH: „Robert Krulwich NPR Nachrichten aus New York.“